Das Dogma von 1870, wonach der Papst unfehlbar ist, wenn er „ex
cathedra“ (vom Lehrstuhl aus) eine Wahrheit verkündet, wird
im Religionsunterricht heute kaum noch erwähnt. Papst Pius IX hatte
damals die Delegierten des ersten Vatikanischen Konzils gedrängt,
diese ungeliebte Lehre zu beschließen.
In Wahrheit gibt es auf Erden keine Unfehlbarkeit. In den Wissenschaften
gibt es sie nicht und in den Religionen auch nicht. Die Wissenschaften
entwickelten Theorien, die mitunter so einwandfrei funktionieren, dass
sie nur noch aus formalen Gründen „Theorien“ genannt
werden. Dabei handelt es sich um Entwürfe, die sich praktisch umsetzen
lassen, sei es beim Bau von Satelliten oder bei der Entwicklung neuer
Computerprozessoren. Der Weg zum Erfolg ist dabei immer mit Fehlern
gepflastert. „Wir irren uns empor“ sagte einmal der Philosoph
Sir Karl Popper, als er den steinigen Pfad zur überprüfbaren
Theorie beschrieb. Die Erforschung der Elektrodynamik war beispielsweise
zweihundert Jahre lang von Irrtümern begleitet. Als man glaubte,
dass man alles wüsste, entwarf Nobelpreisträger Richard Feynman
seine Quantenelektrodynamik um nochmals alles umzupflügen.
Auch das Leben selbst hat eine Odyssee hinter sich. Alle Saurier, alle
Ammoniten, alle Trilobiten, alle Belemniten, die meisten Brachiopoden,
kurzum: unübersehbar viele Tier- und Pflanzenarten wurden durch
Naturkatastrophen oder durch natürliche Konkurrenz auslöscht.
Was wir heute sehen, ist der Rest, und auch der wird eines Tages verschwunden
sein, um neu entstandenen Arten Platz zu machen.
Schlingerbewegungen auf den Wegen zu neuen Gottesbildern haben selbstverständlich
auch die Religionen hinter sich. Die christlichen Kirchen bilden dabei
keine Ausnahme, wobei die Wissenschaften etwas geschlossener auftreten
können, weil hier das Element der Überprüfbarkeit eine
dominierende Rolle spielt. Marcion gründete im Jahr 144 eine Gegenkirche,
die teilweise bis ins Mittelalter existierte. Auch der über Jahrhunderte
attraktiven christlichen Variante des Arianismus wurde erst durch ein
finanzielles Druckmittel des Kaisers ein Ende bereitet. Mohammed, das
Schisma, Reformation, Gegenreformation und die Bildung zahlloser Sekten
führten zur heutigen unübersehbaren Religionsvielfalt.
Die Entwicklung des Lebens, die Entwicklung der Wissenschaften, die
Entwicklung der Religionen, auch die Entwicklung der Demokratien - sie
alle haben Irrtümer, Fehler, Korrekturen und neuerliche Fehler
hinter und noch vor sich. Ein tröstlicher Gedanke, der ein klammheimliches
Schmunzeln bewirken sollte, wenn selbsternannte Propheten, Politiker
oder der Sektenbruder von nebenan wieder einmal die Wahrheit des Jahrzehnts
verkünden.