Die westliche Kultur erlebt seit Jahren eine Krise ideologischer und dogmatischer
Glaubenssysteme. Das Ansehen von Organisationen, die uns früher Antworten
auf die Fragen der Zeit gaben, vor allem aber einen Glauben an einen „neuen
Menschen“ und eine neue Gesellschaft, ist bei den intellektuellen
Eliten der Industriegesellschaften auf einen historischen Tiefstand gefallen.
Utopien handeln in den entwickelten Gesellschaften von individuellem Wohlergehen,
nicht von gesellschaftlicher Veränderung: Cash-Flow statt Klassenbewusstsein,
Disco statt Diskussion, Feng Shui statt Mao Tse-tung. Die Wurzeln für
diese Veränderungen liegen nicht nur im Versagen der Ideologien der
letzten Jahrzehnte, sondern auch in der anhaltenden naturwissenschaftlichen
Revolution, in der wir uns seit über drei Jahrhunderten befinden.
Ein längst entmutigter Idealismus macht einem modernen Realismus
auch deswegen Platz, weil wir durch die Entwicklung der Naturwissenschaften
besser als je zuvor über die biologisch fundierten Wesenszüge
der Menschheit Bescheid wissen.
Der Siegeszug der Naturwissenschaften, der im 17. Jahrhundert in Italien
begann, beseitigte zeitverzögert aber radikaler als es irgendeine
Philosophie jemals vermochte, der Reihe nach alte Weltbilder. Ein Ende
der Entwicklung ist noch nicht in Sicht, denn die Biologie dringt zurzeit
immer tiefer in das menschliche Erbgut und in die Strukturen unseres Gehirns
ein. Nichts wird so sein, wie es früher war. Rückzugsgefechte
einiger weniger Geisteskrieger, die unbeirrt gegen die Wissenschaften
anzugehen versuchen, erregen nur noch Mitleid.
Wer nun glaubt, diese Entwicklung werde die Menschheit in eine Sinnkrise
und damit in die Vernichtung treiben, liegt falsch. Die Menschen werden
sich in ihrer Art und Weise, miteinander umzugehen und sich zu lieben
und zu hassen, in der Zukunft kaum ändern. Niemand geht ein Risiko
ein, wenn er die Voraussage wagt, dass im 3. Jahrtausend neben Eintracht
und Versöhnung weiterhin auch Dummheit, Fanatismus, Arroganz und
Verbrechen zum Repertoire des menschlichen Verhaltens zählen werden.
Die Serie geistiger Reformen durch die modernen Naturwissenschaften begann
mit der Verdrängung der Erde aus dem Mittelpunkt des Universums und
reicht bis zum Sturz des Menschen vom Podest seiner Einzigartigkeit. Die
meisten Umwälzungen erfolgten gegen die erfolglosen Proteste der
jeweils herrschenden Ideologen, Philosophen und Theologen. Heute wissen
wir, dass die Probleme der Zukunft rational und ohne Ideologie gelöst
werden müssen. Paradoxerweise geht das nicht ohne den irrationalen
Glauben an diese Lösbarkeit.
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