Die menschliche Psyche ist ein Bereich, der sich dem Zugang der Wissenschaft
nur zögernd öffnet. Der Glaube an die Kraft der menschlichen
Vernunft wird durch dramatische Vorkommnisse immer wieder erschüttert.
Zu den dunkelsten Kapiteln seelischer Abgründe zählt die Suggestion,
wie der „Fall Wilkomirski“ zeigt.
Im Spätsommer des Jahres 1995 veröffentlichte der Verlag Suhrkamp
das autobiografische Buch „Bruchstücke“ von Binjamin
Wilkomirski. Der Autor berichtet in dem Buch von bruchstückhaften
Erinnerungen an die Kindheit in zwei deutschen Konzentrationslagern,
wobei er sich auf sein fotografisches Erinnerungsvermögen beruft.
Der Bericht beginnt mit einer Flucht aus Riga, beschreibt den Aufenthalt
in den Kinderbaracken der Konzentrationslager Majdanek und Birkenau und
endet bei seinen Schweizer Stiefeltern.
Das Buch erregte große Aufmerksamkeit beim lesenden Publikum und
bei den Rezensenten vieler Medien. Wilkomirski galt ab sofort als jüngster
Überlebender des Holocaust. Im Laufe der Monate wurde Wilkomirski
mit Literaturpreisen überhäuft. Daniel Goldhagen, der Autor
des Buches „Hitlers willige Vollstrecker“ nannte Wilkomirskis
Buch „ein kleines Meisterwerk“. Andere Autoren begrüßten
das Buch als willkommene Ergänzung zu Anne Franks Tagebüchern.
Anne Frank als Opfer, Binjamin Wilkomirski als Überlebender der SS-Tötungsmaschine.
Im Sommer 1998 nahm das Medieninteresse eine Wendung. In der „Weltwoche“
war ein Artikel erschienen, in dem es hieß, dass Daniel Wilkomirski
als uneheliches Kind namens Bruno Grosjean zur Welt gekommen war, nach
einer Adoption den Namen Bruno Dösekker bekommen und die Konzentrationslager
nicht als Insasse sondern nur als Tourist von innen gesehen hatte. Weitere
seriöse Recherchen, unter anderem von professionellen Historikern,
förderten deprimierende Details ans Tageslicht: Wilkomirski alias
Dösekker entpuppte sich als schwer depressiver und psychisch labiler
Phantast. Auch die Ursache der Märchen war schnell aufgedeckt. Ein
befreundeter Psychotherapeut und dessen Kollege hatten Bruno in einer
kritischen Lebensphase untersucht und ihn aufgefordert, Albträume
und Ängste aufzuschreiben. Auf Grundlage dieser Aufzeichnungen erfanden
die Psychotherapeuten nach und nach Bilder aus der Kindheit. Bruno glaubte
schließlich an seine von den beiden kreativen Psychotherapeuten
konstruierten falschen „Kindheitserinnerungen“.
Der Fall Wilkomirski ist kein Einzelfall. In den USA wurden Therapeuten,
die Patienten „Erinnerungen“ an Vergewaltigungen und andere
Verbrechen implantiert hatten, inzwischen gerichtlich verurteilt. Die
Dunkelziffer ähnlicher erschreckender Vorkommnisse dürfte hoch
sein.
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