Nobelpreise gibt es seit über hundert Jahren, die meisten sind
berechtigt, manche Verleihungen dürfen hinterfragt werden. In diesem
Jahr gibt es nichts zu hinterfragen. Alle diesjährigen klassischen
Preise (Medizin und Physiologie, Chemie und Physik) wurden für
Durchbrüche verliehen, deren Folgen man zurzeit noch kaum abschätzen
kann.
Der Physik-Nobelpreis wurde dafür verliehen, dass eine entscheidende
Entdeckung – in Wahrheit eine extrem genaue Messung - zum endgültigen
Sieg der Urknalltheorie beigetragen hat. Die Medizin- und Chemie-Nobelpreise
bilden in diesem Jahr fast so etwas wie Siamesische Zwillinge. In beiden
Fällen wurden Arbeiten belohnt, die ein bestimmtes Molekül
in den Zellen aller Lebewesen betreffen: Die Ribonukleinsäure,
kurz RNA.
Andrew Z. Fire von der Stanford University und Craig C. Mello von der
Massachusetts Medical School wurden für ihre Entdeckungen zur RNA-Interferenz
ausgezeichnet. Es handelt sich um eine neue Methode zur gezielten Unterdrückung
von Genen. "Das Pfiffige an ihrer Entdeckung ist, dass sie die
Mittel der Natur selbst zur Anwendung bringt", sagte ein Sprecher
des Nobelkomitees. Biologen und Mediziner sind sich darüber einig,
dass dies fantastische Möglichkeiten im Bereich der Krebstherapie
eröffnet. Natürlich dauert es noch Jahre, bis auf Basis der
Entdeckung entsprechende Arzneimittel entwickelt werden können,
aber die Prinzipien sind bekannt. Bereits im Jahr 2002 wurde das neue
Verfahren von Mello und Fire vom Fachjournal "Science" als
"Durchbruch des Jahres" gefeiert. Seither boomt weltweit die
Biotech-Branche wie nie zuvor. Gene lassen sich demnach gezielt ausschalten,
wenn künstlich produzierte doppelsträngige RNA-Stücke
in die Zellen gebracht werden.
Erkenntnisse der RNA-Forschung werden auch an einer philosophischen
Nebenfront Auswirkungen haben. Es geht um die Entstehung des Lebens
vor 4 Milliarden Jahren. Bisher standen die Biologen und Biochemiker
vor einem fast unlösbaren Problem. Die Erbmasse DNA kann nur mit
Hilfe eines Enzyms in eine RNA-Kopie übersetzt werden, und diese
wiederum nur mit Hilfe einer Gruppe von Enzymen in andere Enzyme umgesetzt
werden. Wie soll so ein komplexer Regelkreis im Urmeer entstanden sein?
Die Situation hat sich nun schlagartig geändert. Die RNA selbst
hat eine enzymatische Wirkung, sie kann ihre eigene Entstehung steuern.
Sollte es gelingen, was nunmehr durchaus denkbar ist, im Labor ein kleines
sich selbst synthetisierendes RNA-Molekül entstehen zu lassen,
dann gäbe es erstmals ein experimentelles Modell zu den Anfängen
der Evolution des Lebens. Dies wäre eine der größten
Wissensdurchbrüche überhaupt.