„Im benachbarten Neanderthale, dem sogenannten Gesteins, ist
in den jüngsten Tagen ein überraschender Fund gemacht worden.
Durch das Wegbrechen des Kalkfelsens … gelangte man in eine Höhle,
welche im Laufe der Jahrhunderte durch Thonschlamm gefüllt worden
war. Bei dem Hinwegräumen dieses Thons fand man ein menschliches
Gerippe, das zweifelsohne unberücksichtigt und verloren gegangen,
wenn nicht glücklicherweise Dr. Fuhlrott von Eberfeld den Fund gesichert
und untersucht hätte.“ Vor 150 Jahren, im Spätsommer 1856,
brachte die „Eberfelder Zeitung“ diese kleine Meldung über
einen merkwürdigen Knochenfund, der sich schon bald als Sensation
herausstellen sollte.
Anfangs glaubte man, dass es sich um ein Mitglied der „Flachköpfe“
aus dem amerikanischen Westen oder um einen Kosaken handelte, der in den
Wirren der Befreiungskriege gegen Napoleon in die Gegend gelangt war.
Nach und nach aber enthüllte sich den geschulten Augen der Anthropologen
die Wahrheit: Erstmals waren Überreste einer anderen Menschenart
gefunden worden. Der moderne Mensch hatte seine biologische Einzigartigkeit
eingebüßt. Heute stehen den Wissenschaften die Reste von über
300 Neandertalern aus insgesamt 80 Fundstellen zur Verfügung. Der
Name erinnert noch an den ersten Fundort, tatsächlich waren die Neandertaler
Europäer mit einigen Ablegern in Israel und Syrien. Sie lebten am
Meer und im Gebirge, sie aßen Früchte, Wurzeln, Ziegen, Schafe
und Auerochsen. Sie benutzten Werkzeuge und Waffen, und sie begruben ihre
Toten. Die Neandertaler konnten ihren Alltag organisieren. Siedlungsplätze
zeigten eine Trennung von Wohnbereichen für die Familien und Arbeitsstellen
für Schlachtungen, Häutungen und den Bau von Werkzeugen und
Waffen. Mammutzähne, Holzpfosten und Zweige wurden verwendet um einfache
Behausungen für Großfamilien zu errichten. Vor etwa dreißig
Jahrtausenden verschwanden die Neandertaler für immer, unsere Vorfahren
nahmen ihren Platz ein.
Professor Christof Zollikofer vom Anthropologischen Institut der Universität
Zürich hat unsere Beziehung zum entwicklungsgeschichtlichen Bruder
auf den Punkt gebracht: „Je länger man sich mit Neandertalern
beschäftigt, desto mehr wird einem klar, dass sie nicht etwa archaische
Wesen waren, sondern eine weitere moderne Menschenart darstellen - unsere
evolutionären Geschwister. … Die Evolution führte also
zweimal zum Menschen: Auf verschiedenen Wegen und in verschiedener Weise.
Dieses doppelte Menschsein ist wie ein Spiegel und regt zu einer gewissen
Bescheidenheit an. Wir sind zwar einzigartige, aber keineswegs einmalige
Produkte der Evolution. Wir sind schlicht die letzten Überlebenden.