Kardinal Schönborn hatte im Juli dieses Jahres das Bedürfnis,
sich zur modernen Evolutionstheorie zu äußern. In einem Aufsatz
in der „New York Times“ schrieb er unter anderem: „Jedes
Denksystem, das die überwältigenden Beweise für einen Plan
in der Biologie leugnet oder wegerklären will, ist Ideologie, nicht
Wissenschaft“. Abgesehen davon, dass Kardinal Schönborn mit
diesem unbewiesenen - weil unbeweisbaren - Satz in seine eigene Ideologiefalle
getappt ist, brachte die folgende öffentliche Debatte mangels an
Fachwissen mehrere frömmelnde Wortmeldungen in den Leserbriefspalten,
weniger jedoch eine fundierte Diskussion. Die weitaus meisten Naturwissenschaftler
haben die Attacke nicht einmal wahrgenommen. Die Affäre ist inzwischen
vergessen, es sei lediglich ein kleiner Epilog angefügt.
Schönborn hat unter anderem geschrieben: „Während der
ganzen Geschichte hat die Kirche die Wahrheit des Glaubens verteidigt.
In der modernen Zeit sieht sich die katholische Kirche in der Position,
auch die Vernunft zu verteidigen ...“ Ist damit etwa die Vernunft
gemeint, mit der seinerzeit der italienische Astronom Galilei gezwungen
wurde, öffentlich abzuschwören, dass sich die Erde um die Sonne
bewegt? Ist es die Vernunft, mit der Papst Pius IX im „Syllabus
Errorum“ - eine 1864 veröffentlichte Liste - Wissenschaften,
Religionsfreiheit und Toleranz verurteilt hatte und deswegen im September
2000 selig gesprochen wurde?
Die Naturwissenschaften haben uns gelehrt, dass die Vernunft in Form
des guten alten Hausverstands nicht immer plausible Theorien liefert.
Ein Biologe oder Physiker des 21. Jahrhunderts darf und soll vernünftig
sein. Gleichzeitig muss er aber bereit sein, ein wohldosiertes und begründbares
Ausmaß an Unvernunft zu akzeptieren, wenn er erfolgreich sein will.
Die Entwicklung der Relativitätstheorie wäre unmöglich
gewesen, hätte man sich ausschließlich der naiven Vernunft
bedient. Auch die erfolgreiche Quantenphysik hat mit Vernunft im landläufigen
Sinne nichts zu tun. Als ein Beispiel von vielen sei der „Tunneleffekt“
erwähnt. Dabei borgt sich ein subatomares Teilchen aus der Zukunft
Energie um durch eine undurchdringliche Barriere zu "tunneln".
Ob diese Annahme vernünftig ist oder nicht, kümmert die Physiker
nur hinsichtlich der Beweisbarkeit, und die ist gegeben. Überprüfbare
Unvernunft kann in den modernen Wissenschaften stärker sein als unwissende
aber geglaubte Vernunft.
Vertreter von Glaubenssystemen müssen, wenn sie auf der naturwissenschaftlichen
Ebene ernst genommen werden möchten, den Begriff der Vernunft mit
Vorsicht verwenden. Es könnte sonst, wie man gesehen hat, peinlich
werden.
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