Zwanzig Jahre nach der Volksabstimmung über das Kernkraftwerk Zwentendorf
und mitten in der rot-grünen Diskussion über den Ausstieg Deutschlands
aus der Atomenergie ist die Frage interessant, wann und vom wem der erste
Atomreaktor gebaut wurde.
Zu Weihnachten 1938 hatten die Deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz
Straßmann sowie die österreichische Physikerin Lise Meitner
die Atomkernspaltung entdeckt. Rasch hatte sich auch herausgestellt, daß
bei der Spaltung schwerer Atomkerne beträchtliche Energiemengen freigesetzt
werden. Sofort war auch einigen Physikern klar geworden, was dies zur
Folge haben könnte. Wenn bei einer Atomkernspaltung Neutronen entstünden,
die andere Kerne spalteten, so könnte dies eine Kettenreaktion bewirken.
Dies wiederum war die Voraussetzung zum Bau einer Atombombe.
Erfahrungswerte über eine Kettenreaktion gab es keine, es existierten
nur einige Laborversuche und ein paar Theorien. Im Herbst 1942 wagte sich
das Team des Atomphysikers Enrico Fermi an die gefährliche Sache
heran. In einer Halle unter dem Sportstadion der Universität Chikago
wurde ein tonnenschwerer Reaktor aus vierzigtausend Graphitblöcken
aufgebaut. In einem Teil der Blöcke steckten die Brennelemente aus
Uran und die Cadmiumstäbe, die die Kettenreaktion bremsen sollten.
Auf einer Plattform über dem Reaktor standen drei Männer, das
sogenannte Himmelfahrtskommando. Falls der Reaktor durchzugehen drohte,
mußten sie eine Cadmiumsalzlösung über den Reaktor gießen.
Ein weiterer Arbeiter sollte im Notfall mit einer Axt ein Seil kappen,
an dem ein großer Cadmiumstab hing. Dieser sollte bei einem drohenden
Desaster in den Reaktor fallen um eine unkontrollierte Kettenreaktion
zu unterbinden.
Einer der Projektleiter, der Nobelpreisträger Arthur Compton, wartete
auf einer Empore über dem Reaktor. Er wollte, wie er sarkastisch
verkündete, im Falle einer Katastrophe zu den ersten Opfern gehören.
Fermi gab Anweisung, den Reaktor zu starten und die Cadmiumstäbe
mit der Hand herauszuziehen. Die Meßgeräte zeigten sofort ein
Ansteigen der Neutronenstrahlen an, die Kettenreaktion hatte eingesetzt.
Nachdem die Strahlungsintensität bedenkliche Ausmaße angenommen
hatte, ordnete Fermi das Ende des Tests an.
Das Experiment hatte seinen Zweck erfüllt. Die technische Machbarkeit
einer atomaren Kettenreaktion war genauso bewiesen worden wie die Freisetzung
hoher Energiemengen. Der Fermireaktor in Chicago hatte gezeigt, daß
der Bau atomarer Waffen möglich war. Die erste Atombombe, die zweieinhalb
Jahre später fertiggestellt wurde, war somit ein technisches Kind
des Atomreaktors - eine unbequeme und daher verdrängte Tatsache.
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