Die durch Viren hervorgerufene Immunschwäche Aids zeigt, wie schlecht
es um unsere Vorstellungskraft und unsere Vernunft steht. Aids ist sowohl
als Krankheit als auch als weltweite Epidemie wesentlich bedrohlicher,
als wir es wahrnehmen wollen.
Es beginnt damit, dass uns meist eine Vorstellung der Größenordnung
fehlt. Das HI-Virus (Humanes Immundefekt-Virus) hat eine Größe
von rund 100 Nanometern, das ist ein Zehntausendstel Millimeter. Weiße
Blutkörperchen, von denen es verschiedene Sorten gibt und die von
den HI-Viren attackiert und umgebracht werden, liegen in einer Größenordnung
von 20 Mikrometern. Die Viren sind also zweihundertmal kleiner als ihre
Opfer, und darin liegt ein Grund für ihre Gefährlichkeit.
Zu allem Überdruss sind Viren keine Lebewesen im herkömmlichen
Sinn, denn sie haben keinen Stoffwechsel: Sie fressen nicht, sie atmen
nicht, sie scheiden nichts aus. Sie dringen lediglich in lebende Zellen
ein, lassen sich dort vermehren und bringen ihren Wirt um.
Impfstoffe ließen sich bisher nicht entwickeln, weil HI-Viren
ihre Oberfläche besonders häufig ändern und die zuvor
gebildeten Abwehrstoffe im Blut dadurch unwirksam werden. Der Genetiker
spricht von einer Antigendrift, die auch Influenzaviren zeigen. Aus
diesem Grund sollten wir alljährlich gegen die jeweils neu auftretenden
Grippeviren geimpft werden. Bei HIV ist die Antigendrift so enorm, dass
möglicherweise nie ein Impfstoff entwickelt werden kann.
Das größte Problem sind jedoch die wie ein vedisches Mantra
alljährlich verkündeten Meldungen, dass man Aids medizinisch
im Griff habe. Das ist weit übertrieben. Es gibt zwar verschiedene
Medikamente (Transkriptase-Inhibitoren, Protease-Inhibitoren, Fusionsinhibitoren
usw.), aber noch lange keine Heilung. Nach dem aktuellen wissenschaftlichen
Stand solle die Therapie die Virusmenge im Blut so weit wie möglich
senken, mehr kann man nicht machen. Diese aggressive Therapie wird "highly
active antiretroviral therapy" (HAART) genannt. Die Nebenwirkungen
sind grausam. Wenn man eine Infektionskrankheit nicht heilen kann, der
Erkrankte aber wegen der Therapie länger lebt, trägt dies
unglücklicherweise zur Verbreitung der Krankheit bei, zumal nicht
wenige Männer trotz aller Aufklärung die Benützung von
Kondomen ablehnen.
Die Horrorzahlen anlässlich des Welt-Aids-Tages sprechen eine
deutliche Sprache. Aids ist überall, auch bei uns, wieder auf dem
Vormarsch. China und Indien zeigen gewaltige Zuwachsraten, und in Afrika
südlich der Sahara kann man nur noch von apokalyptischen Zahlen
sprechen. Im Jahr der Fußball-WM werden allein in Südafrika
2 Millionen Aids-Vollwaisen unter 15 Jahren erwartet.