Was wäre geschehen, wenn dem im Evangelium erwähnten Kindermord
von Bethlehem der kleine Jeschua (so hieß Jesus in Wahrheit) zum
Opfer gefallen wäre? Historiker verweisen darauf, dass der Kindermord
von Bethlehem kritisch zu hinterfragen ist, weil König Herodes
vier Jahre vor Christi Geburt gestorben ist. Wir lassen dieses Problem
beiseite und überlegen uns weitere ähnliche „was-wäre-wenn-Fragen“,
denn diese zeigen auf mitunter erschreckende Weise, welch geringe Anlässe
genügen, um dem Gang der Geschichte eine Wendung zu geben.
Wäre die spanische Armada im 16. Jahrhundert nicht vernichtet
worden, dann wäre Spanien und nicht England zur Weltmacht geworden.
Wäre Marschall Grouchy seinem Kaiser Napoleon bei der Schlacht
von Waterloo zu Hilfe geeilt, hätte Napoleon die Schlacht gewonnen.
Die Geschichte wäre anders verlaufen. Doch das sind Kleinigkeiten
im Vergleich zu den großen Ereignissen. Vor 65 Millionen Jahren
starben im Zuge einer globalen Katastrophe Ammoniten, Belemniten, Saurier
und andere Tiergruppen aus. Hätte es alle Reptilien erwischt, was
im Bereich des Möglichen lag, dann gäbe es heute keine Eidechsen,
Krokodile, Schlangen und Schildkröten. Als am Ende des Erdaltertums
vor 245 Millionen Jahren Trilobiten (Dreilapperkrebse) und viele andere
Lebewesen verschwanden, überlebte eher zufällig eine kleine
Wirbeltierfamilie, die Therapsiden. Ohne sie gäbe es heute keine
Säugetiere.
Die Burgess-Schiefer in den kanadischen Rocky Mountains zählen
zu den weltweit bedeutendsten Fundstätten von Fossilien. In diesen
Gesteinen aus der Kambrium-Zeit vor rund 500 Millionen Jahren findet
man Lebewesen, die man keinem der heutigen Tierstämme zuordnen
kann. Unter den Burgess-Fossilien ist auch ein kleines Lebewesen namens
Pikaia gracilens. Biologen haben es als das älteste Chordatier
identifiziert. Chordatiere sind die Vorfahren aller Wirbeltiere. Hätte
Pikaia das gewaltige Kambrium-Massaker, eines der größten
Massensterben überhaupt, nicht überlebt, so gäbe es heute
keine Forellen, keine Frösche, keine Eidechsen, keine Wellensittiche,
keine Hunde, Katzen, Pferde. Auch uns Menschen gäbe es nicht. Nur
Würmer, Spinnen, Seesterne und andere Wirbellose.
Die Weihnachtsgeschichte, oft als Inbegriff einer Friedensgeschichte
gedeutet, zeigt auf der Rückseite der Medaille den Kindermord von
Bethlehem. Jeschua von Nazareth zählte damals zu den Überlebenden.
Auch Pikaia hat glücklich überlebt und damit vor sehr langer
Zeit der Geschichte des Lebens eine Richtung gegeben. Egal, ob wir das
als Schicksal oder Fügung sehen - die Grenze zwischen Leben und
Untergang ist schmal. Die Liste der Namenlosen, die es nicht geschafft
haben, ist endlos.