„Unser Gehirn ist ein Produkt unserer Milliarden Jahre alten
Natur, es ist in erster Linie ein Organ, um in der Welt zu überleben,
weit weniger um die Welt zu verstehen“. Sätze wie diese hören
Studenten, wenn sie Einführungsvorlesungen über vergleichende
Verhaltensforschung und die evolutionäre Erkenntnistheorie besuchen.
Der österreichische Nobelpreisträger Konrad Lorenz, der zur
Entwicklung dieser Wissensgebiete Wesentliches beigetragen hatte, und
an den sich ältere Zeitgenossen noch erinnern, sagte dazu unter
anderem: „Der Mensch ist nur gut in der Elf-Mann-Sozietät“.
Das alles klingt etwas seltsam, aber es bedeutet nichts anderes, als
dass unser im Laufe der Jahrmillionen entstandenes Denken und Fühlen
auf überschaubare Größenordnungen ausgerichtet ist.
Vernunft ist das, was wir leicht verstehen können. Für unvernünftig
halten wir das, was unserem schlichten Hausverstand zuwider läuft.
Nun gab und gibt es unter den Menschen immer einige wenige mit einem
überdurchschnittlich leistungsfähigen Gehirn. Diese Genies
dachten und denken, was uns Normaldenkern nie in den Sinn käme.
Werden die neuen Gedanken eines Tages überprüf- und beweisbar,
dann werden sie Bestandteil des Weltwissens. Das führt zu einer
erstaunlichen Erkenntnis. Vernunft und Unvernunft sind nicht absolut,
sie sind relativ.
Im 16. Jahrhundert war es vernünftig, an die Erde als Zentralgestirn
zu glauben. Demnach bewegte sich alles, auch die Sonne, um die Erde
herum. Der deutsch-polnische Astronom Nikolaus Kopernikus und sein genialer
Vollstrecker, der italienische Mathematiker Galileo Galilei, drehten
dieses alte Bild der Welt um. Was gestern Unvernunft war, ist heute
anerkanntes Wissen.
Bis ins 18. Jahrhundert galt es als vernünftig, das Alter der
Erde mit wenigen tausend Jahren anzunehmen. 1785 veröffentlichte
der Schotte James Hutton ein Buch mit dem Titel „Theorie der Entstehung
der Erdoberfläche“. Bald folgten ähnliche wissenschaftliche
Arbeiten. Rasch war klar geworden, dass die Erde sehr viel älter
sein muss. Heute weiß das jeder Volksschüler.
Es sollte noch schlimmer kommen. Die alte „vernünftige“
Annahme, dass Raum, Zeit und Masse absolute Größen sind,
wurde durch die Relativitätstheorie zerstört. Die vernünftig
anmutende Gewissheit, dass ein Ding nicht zugleich an zwei Stellen sein
kann, gilt auch nicht mehr. Die Quantenmechanik gestattet einem Teilchen,
gleichzeitig an zwei Orten zu sein. Wer glaubt, es handle sich hier
um „graue Theorien“, der irrt, denn von Theorien ist nur
noch aus formalen Gründen die Rede. Es handelt sich um experimentell
beweisbare Tatsachen. Vernunft ist klammheimlich aber unaufhaltsam zu
einem Teil der Wissenschaftsgeschichte geworden.