Der Begriff der Anarchie erfuhr im Laufe der Jahrhunderte mehrfache Änderungen. Bei den alten Griechen bedeutete Anarchie das Fehlen eines (militärischen) Führers. Im antiken Rom gab es dieses Wort nicht. Der brillante italienische Politiker und Philosoph Niccolo Machiavelli bezeichnete gewisse politische Degenerationserscheinungen als Anarchie, wobei er offenbar einen hellseherischen Blick in Richtung 21. Jahrhundert besaß. Im deutschen Sprachraum wurde die Anarchie erstmals im „Lexicon Philosophicum“ definiert: „Anarchie existiert, wenn es keinen Staat, kein Recht und kein Gesetz gibt.“
Wissenschaftler sind wohl die letzten, denen einen Hang zur Anarchie unterstellt wird. Wissenschaftler tragen mutmaßlich weiße Mäntel, dicke Brillen, hantieren mit Messgeräten und schreiben Zahlenkolonnen auf. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Für viele ist Wissenschaft eine anonyme Macht, doch „Wissenschaft wird von Menschen gemacht“, wie der große Quantenphysiker Werner Heisenberg einmal sagte. In den Augen der Philosophen und Soziologen sind lediglich austauschbare Leute am Werk, die mit maschineller Logik die Welt entzaubern. So kommt es, dass sich Philosophen und andere Kulturwissenschaftler, nachdem sie ausgiebig über die Macht der Naturwissenschaften gejammert hatten, wieder ihren Elfenbeinturmthemen zuwenden, ohne zu verstehen, dass Wissenschaften von Menschen gemacht werden.
Es ist richtig, dass wissenschaftlich-künstlerisches Arbeiten im Gegensatz zum Bau von Luftschlössern harte Knochenarbeit ist. Weder die Gemälde der Sixtinischen Kapelle noch Goethes Faust noch Einsteins Relativitätstheorie sind in einem Jahr entstanden. Wissenschaftler und ihre Brüder im Geiste, Maler, Bildhauer und Komponisten, sind Rebellen, einige bewusst, viele unbewusst, aber es waren und sind grandiose Anarchisten.
Wissenschaft wird von "Freien Radikalen" gemacht, wie es der britische Journalist Michael Brooks in seinem Buch beschreibt. ("Freie Radikale - Warum Wissenschaftler sich nicht an Regeln halten.“ Verlag Springer Spektrum). Es ist laut Brooks an der Zeit, die Wissenschaften wieder als die anarchistischen, kreativen und radikalen Anstrengungen zu sehen, die sie immer gewesen sind. Weicheier sind fehl am Platz.
Ich habe in meiner Jugend im Bereich der Genetik und Biochemie gearbeitet und dabei die Entstehung einer neuen Wissenschaft (die Gentechnik) im Labor hautnah miterleben dürfen. Niemand hat uns damals verstanden, geschweige denn gefragt, was wir da machen und ob wir das dürfen. Wir haben es gemacht, es war Rock’n Roll. Damals begann in meiner Seele ein Feuer kreativer Anarchie zu brennen, das bis heute nicht erloschen ist.