Ist es eine Schande, die Gleichung v(m) = v(g) * ln(m(0)/m) nicht zu
kennen oder nicht zu verstehen? Nein, das ist es natürlich nicht,
obwohl es sich um die wichtigste Gleichung der Raumfahrt handelt, die
Raketenformel des russischen Physikers Konstantin Ziolkowski. Ziolkowski
hat dieses physikalische Gesetz bereits 1903 entworfen, es bildet seither
die Grundlage für die Entwicklung aller Raketen. Es ist auch keine
Schande, die Gravitationsformel F = G * (m(1)*m(2)/r*r) nicht zu kennen,
obwohl sich nach dieser Gleichung Planeten, Monde und Satelliten bewegen.
Selbstverständlich ist es auch nicht nachteilig, von Integralrechnungen
keine Ahnung zu haben. Dieses vom Engländer Isaac Newton und dem
Deutschen Gottfried Wilhelm Leibniz unabhängig voneinander entwickelte
geniale mathematische Verfahren erlaubt es, eine Figur in unendlich
kleine Stücke zu teilen, die dann unendlich oft aufsummiert werden.
Erst mit Hilfe dieser Methode war es möglich geworden, allerlei
Kurven und geometrischen Körpern zuleibe zu rücken. Unendlich
kleine Teile werden unendlich aufsummiert – ein Verfahren, das
nicht nur mathematisch, sondern auch philosophisch eine gewisse Faszination
besitzt.
Etwas nicht zu wissen, ist noch keine Schande. Ein Nichtwissen oder
Nichtverstehen an die große Glocke zu hängen, um gleichzeitig
zu verkünden, dass es sich hier um nutzloses Wissen handelt, das
nicht in die Schulen gehört, ist nicht nur eine Schande, es ist
geradezu ein Frevel.
In einer österreichischen Tageszeitung hat ein „Bildungsexperte“
und Personalberater (neudeutsch „Headhunter“) kürzlich
gemeint, dass Bildungsinhalte hinterfragt werden müssen. Wörtlich
hieß es da: „Ich konnte meinen Kindern nie erklären,
warum sie diese Mathematik, etwa Integralrechnung, lernen sollen. Wir
brauchen Praxisnähe, aus dem Leben gegriffene Beispiele.“
Schon die Formulierung „diese Mathematik“ ist entlarvend.
Der Denkfehler der Nicht-Versteher, der hier offensichtlich wird, durchzieht
längst die gesamte Bildungsdebatte: Was ich nicht verstehe, ist
nutzlos und gehört abgeschafft. Selbstverständlich gibt es
zahlreiche intelligente Schüler, die den tiefen Sinn und die technische
Bedeutung der Integralrechnung sofort durchschauen. Selbstverständlich
gibt es auch Schüler, denen man die Raketengleichung und das Gravitationsgesetz
nur ein einziges Mal erklären muss.
Das Kreuz mit manchen „Bildungsexperten“ liegt in der Begrenztheit
ihres Horizonts. Was man selber nicht versteht, das gehört aus
den Lehrplänen gestrichen. Man hüte sich vor diesen Halbwissern,
wenn es um die Erstellung von Bildungsstandards geht.