Wien war einmal, man glaubt es kaum, das intellektuelle Weltzentrum Nummer eins. Mitte der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts trafen sich Naturwissenschaftler, Mathematiker, Sozialwissenschaftler und Philosophen regelmäßig und nannten die Treffen „Wiener Kreis.“ Der Ursprung des Kreises liegt noch vor dem ersten Weltkrieg. Zwischen 1924 und 1936 erlebte der Kreis eine Blütephase. Zum Kern der Gruppe zählten der Gründer Moritz Schlick, weiters Otto Neurath, Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Richard von Mises, Kurt Gödel und viele andere. Auch Ludwig Wittgenstein und Karl Popper standen in engem Kontakt zum Wiener Kreis, nahmen selbst aber nicht an den Treffen teil.
Die wissenschaftliche Position des Wiener Kreises wurde als „logischer Empirismus“, manchmal auch „Neopositivismus“ bezeichnet. Die Mitglieder waren vor allem durch Mathematiker und Physiker beeinflusst, wie Ernst Mach, David Hilbert, Henri Poincaré, Bertrand Russell und Albert Einstein. Innerhalb des Wiener Kreises herrschte ein Pluralismus verschiedener Meinungen, daher wuchsen niemals zuvor und niemals danach in Österreich dem Geist derart mächtige Flügel. Die Geisteswissenschaftler hatten es von Anfang an nicht leicht, sich gegenüber den Sozial- und Naturwissenschaftlern zu behaupten. Der Nationalökonom Otto Neurath meinte „Von den alten Eierschalen Metaphysik, Idealismus und alldem müsst ihr euch befreien.“ Ein andermal sagte er: „Der Philosoph will immer vernebeln. Schon seine geschwollene Sprache zeigt es: Manifestation, Emanation, Negation der Negation.“ Der weltberühmte Physiker Ludwig Boltzmann trug besonders dick auf: „Der unwiderstehliche Drang zum Philosophieren ist wie der Brechreiz bei Migräne, der etwas auswürgen will, wo nichts ist.“
Die Juden als kulturell leistungsfähiges Volk waren im Wiener Kreis besonders stark vertreten. Da der Antisemitismus keine nationalsozialistische Erfindung ist, hat der Exodus der Juden noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland (1933) und vor deren Einmarsch in Österreich (1938) begonnen. Der Wiener Kreis und seine Mitglieder haben aber noch Jahrzehnte nach dem Ende der Gruppe weltweit Einfluss auf viele Bereiche ausgeübt, vom sozialen Wohnbau über die moderne Mathematik bis hin zur Computertechnik.
Die Universität Wien hat nun eine hochwertige und interessante Ausstellung über die produktivste Zeit menschlichen Geistes in Österreich gestaltet. „Der Wiener Kreis – Exaktes Denken am Rand des Untergangs“. Geöffnet im Hauptgebäude der Universität Wien bis 31. Oktober 2015 jeweils von Montag bis Samstag 10 bis 18 Uhr.