Wer in einem Lexikon oder im Internet nach „Konvergenz“ sucht, findet von der Wirtschaft über die Mathematik bis zum Bergbau viele Bereiche, auf die das Wort zutrifft. In der Evolutionsbiologie versteht man unter Konvergenz Merkmale, die bei verschiedenen Arten ähnlich, im Verlauf der Stammesgeschichte aber unabhängig voneinander durch natürliche Selektion entstanden sind. Der Anpassungsdruck einer Umwelt kann ganze Lebewesen oder Teile von ihnen ähnlich machen.
Die Grabwerkzeuge eines Maulwurfs (Säugetier) und diejenigen einer Maulwurfsgrille (Insekt) sind verblüffend ähnlich. Die hakenartigen Krallen einer Kopflaus und eines Faultiers, die Paddeln eines Delphins und eines Schwimmkäfers, das Sprunggelenk eines Kängurus und einer Laubheuschrecke – sie alle sehen ähnlich aus. Der Schnabel eines Geiers sieht äußerlich aus wie der eines südamerikanischen Kondors, der aber stammesgeschichtlich ein Storch ist. Das ist Konvergenz.
Die Verhaltensforscher des 20. Jahrhunderts fragten sich, ob es nicht auch angeborenes Verhalten gibt, das den Gesetzen der natürlichen Selektion folgt. Der österreichische Biologe und Arzt Konrad Zacharias Lorenz (1903 – 1989) hatte das Buch von Immanuel Kant „Kritik der reinen Vernunft“ gelesen, ein Werk, das als eines der einflussreichsten in der Philosophie betrachtet wird. Bei Kant gibt es den Begriff „a priori“. Urteile a priori können ohne Erfahrung gefällt werden. So ist beispielsweise Höhenangst oder Angst vor Schlangen nichts Anerzogenes. Wir wissen oder ahnen zumindest, dass Abgründe und Schlangen gefährlich sein können.
Aus diesem „a priori“ (von vorneherein), machte Konrad Lorenz ein durch die Natur entstandenes Verhalten „a posteriori“ (im Nachhinein). Wir sehen den Raum beispielsweise dreidimensional. Das haben wir nicht von unseren Eltern gelernt, sondern bei unseren Vorfahren wurde deren räumliche Wahrnehmung im Laufe der Jahrmillionen durch die Natur optimiert. Unsere baumlebenden Ahnen waren also hinsichtlich der Raumwahrnehmung gut angepasst, und wir, die Nachkommen, haben diese Fähigkeit im Hirn gespeichert. Diese wichtige Erkenntnis durften die Ethologen (Verhaltensforscher) noch ungestraft behaupten. Als aber Konrad Lorenz die Aggression ebenfalls als evolutionär entstandenes Phänomen beschrieb und damit einige Psychologen verärgerte, entstand vorübergehend Polemik. Dies auch deshalb, weil Lorenz für seine Erweiterung der Evolutionstheorie 1973 zu Recht den Nobelpreis bekam.
Buchtipps: Neil Shubin, „Der Fisch in uns“, Fischer Taschenbuch; Andreas Jahn, „Wie das Denken erwachte“, Gehirn & Geist Taschenbuch; Konrad Lorenz, „Das sogenannte Böse“, dtv Taschenbuch.