Das Schuljahr geht zu Ende. Die einen freuen sich über ein schönes Zeugnis, das hoffentlich mit den tatsächlichen Leistungen übereinstimmt, was heute ja nicht mehr selbstverständlich ist. Andere lecken ihre Wunden und verdammen die Lehrer oder die eigene Faulheit, je nachdem. Bei all den Debatten über Zentralmatura, Schulstrukturen und dergleichen, bleiben Bildungsinhalte auf der Strecke. Wie steht es beispielsweise mit der Kreativität? Gemeint ist nicht nur die Kreativität in Kunst und Literatur, sondern auch in der Mathematik und in den Naturwissenschaften. Es geht um die „Fermifragen“, die nach dem italienisch-amerikanischen Atomphysiker Enrico Fermi benannt sind. Vor lauter Drill in Richtung PISA-Tests und Zentralmaturafragen geht diese Art der Kreativität leider unter.
Als Fermiproblem oder Fermifrage bezeichnet man eine Abschätzung für eine Aufgabe, für die zunächst keine Daten existieren. Das klassische Beispiel für eine Fermifrage ist die Zahl der Klavierstimmer in Chicago. Es ist nötig, an die Sache kreativ heranzugehen. Wie lange arbeitet ein Klavierstimmer pro Woche? Wie viele Menschen gibt es in Chicago? Wie hoch ist der Prozentsatz an Klavierspielern? Wie lange dauert es, ein Klavier zu stimmen? Fermis Studenten, die bereits eine intelligente Auswahl bildeten, konnten aus den geschätzten Ausgangswerten die Zahl der Klavierstimmer in Chicago annähernd gut errechnen. Es geht dabei nicht um die genaue Zahl, sondern nur um die Größenordnung. Fermiaufgaben sind heute sowohl in der Wirtschaft als auch in der Wissenschaft unverzichtbar. Der Unternehmer möchte wissen, ob sich irgendwo eine Betriebsansiedlung lohnt, der Wissenschaftler muss das zeitliche und finanzielle Ausmaß einer Versuchsserie abschätzen können.
Weitere Fermifragen wären: Wie viele Blätter hat ein Baum? Wieviel Müll erzeugen die Österreicher pro Monat? Wie viel Popcorn füllt einen Raum? Wie viel Blut pumpt das Herz in einem Leben? Passen eine Million Euro in 10-Euro-Scheinen in einen Koffer? Aus wie vielen Zellen besteht der menschliche Körper? Es ist zur Lösung dieser Aufgaben zunächst nötig, einige Daten zu erheben. Wie viele Blätter hat ein Ast? Wie viel Müll wird in Bregenz, Feldkirch oder Innsbruck produziert?
Aus meiner Zeit als Student weiß ich, dass beispielsweise ein Genetiker, der ein Chromosom zum Zweck komplizierter Tests an bestimmten Stellen mit „Markern“ versehen soll, bis heute über kein Patentrezept verfügt. Es handelt sich um ein typisches Fermiproblem. Die Behandlung von Fermifragen sollte daher vermehrt Eingang in den Unterricht finden, denn die heutige Politik scheint mit dieser Form kreativer Intelligenz wenig am Hut zu haben.