Mitte Mai dieses Jahres wurde in den USA ein Vortrag des ehemaligen Chefs der Federal Reserve (US-Notenbank) Alan Greenspan heftig diskutiert. Greenspan erklärte das Einkommensgefälle in den Industriestaaten damit, dass immer weniger Menschen fähig sind, mit dem technologischen Fortschritt mitzuhalten. In den Internet-Blogs schimpften einige Leser, dass sie mit PC und Mobiltelefon bestens umgehen könnten, trotzdem aber keinen Spitzenjob bekommen haben. Sie hätten besser hinhören sollen. Greenspan sagte nämlich: "Das System ist heute so komplex, dass immer weniger Menschen die Fähigkeit haben, mit dieser wachsenden Technologie produktiv zu arbeiten."
Es geht nicht um die Verwendung eines Computers oder eines Mobiltelefons. Das setzt man bei jungen Menschen voraus. Es geht um Facharbeiter und MINT-Menschen. MINT ist die Abkürzung für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Es sind die Leute, die den technischen Fortschritt verstehen und steuern. Selbstverständlich sind hochwertige Dienstleistungsberufe wie Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Juristen usw. in entwickelten Staaten unverzichtbar, aber die Motoren des technischen Fortschritts sind Forschungs- und Industriebetriebe mit Schweißern, Elektronikern, Programmierern, Biologen, Chemikern und anderen ausgebildeten Mitarbeitern.
Greenspan sagte noch etwas, und das sollte als Warnung verstanden werden: "Das US-Bildungssystem kann niemals schnell genug reagieren … jeder von uns hier im Saal wird subventioniert, indem wir unseren Konkurrenten nicht erlauben, ins Land zu kommen, weil dann unsere Einkommen niedriger wären." Greenspan plädierte offen für einen freien Markt gut ausgebildeter Menschen. Dieser Weltmarkt existiert in Wahrheit schon. Im März dieses Jahres berichteten die österreichischen Medien über ein „Brain drain“-Problem. Der Ausdruck bedeutet „Gehirnabfluss“. Gemeint ist die Abwanderung naturwissenschaftlich-technisch ausgebildeter junger Menschen. Auch österreichische Maturanten mit gutem Zeugnis gehen oft an renommierte ausländische Universitäten und bleiben dort.
Wenn wir unseren Lebensstandard halten wollen, muss zweierlei geschehen. Erstens muss ein besserer inländischer Markt für Facharbeiter und MINT-Absolventen durch Abbau unserer grotesk aufgedunsenen Bürokratie erfolgen. Die Drohung von Industriebetrieben, das Land zu verlassen, sollte bei Politikern die Alarmglocken läuten lassen. Zweitens muss allen Schulabgängern, auch den Maturanten und Jungakademikern, deutlich gesagt werden, dass ein Abschlusszeugnis kein Garantieschein, sondern nur eine Lizenz für harte und qualifizierte Arbeit ist.