Die Vergewaltigungsvorwürfe und –verfahren, in die Politiker
und Prominente involviert sind, haben in letzter Zeit Aufmerksamkeit
erregt. Die Frage, die im Umfeld der Ermittelungsverfahren auftauchen,
betreffen deren Länge: Warum dauert das alles so lange? Es dauert
so lange, weil die Juristen im Laufe des letzten Jahrzehnts vorsichtiger
geworden sind, und das zu Recht. Schuld hat wieder einmal die Wissenschaft,
die nachgewiesen hat, dass „absolut glaubwürdige“ und
„hundertprozentig authentische“ Zeugnisse entsetzlich fehleranfällig
sein können.
Einen von vielen bekannten Belegen lieferte Professor Daniel Simmons
von der University of Illinois. Er filmte eine Gruppe junger Menschen,
die im Kreis standen und sich gegenseitig Bälle zuwarfen, wobei
die einzelnen Personen die Plätze wechselten. Der Film wurde später
Versuchspersonen gezeigt. Davor wurde gesagt, dass die Beobachtungsgabe
getestet werde, die Zuseher sollten feststellen, wie oft wie viele Bälle
geworfen wurden. Nach dem Test sollten die Zuseher aufschreiben, was
sie gesehen hatten. Nachdem der Versuchsleiter die Zettel eingesammelt
hatte, ließ er die Katze aus dem Sack. Er fragte: „Wer hat
den Gorilla gesehen?“ Fast alle Zuseher machten ein verblüfftes
Gesicht, sie hätten eindringlich beteuert, dass kein Gorilla zu
sehen war. Tatsächlich lief ein Mann im Gorillakostüm zehn
Sekunden lang mitten durch die Szene, blieb stehen, blickte in die Kamera,
fuchtelte mit den Armen und verschwand wieder. Die überwiegende
Mehrheit der Versuchspersonen würde vor Gericht unter Eid aussagen,
dass da kein Gorilla zu sehen war. Viele ähnliche Untersuchungen
beweisen, dass Berichte von Augenzeugen regelmäßig mit Vorsicht
zu bewerten sind.
Noch unheimlicher war ein anderer Fall. 1995 erschien im Verlag Suhrkamp
ein Buch, in dem ein gewisser Binjamin Wilkomirski unter Berufung auf
sein fotografisches Erinnerungsvermögen seine Jahre als Kind in
den Konzentrationslagern Majdanek und Birkenau beschrieb. Wilkomirski
wurde mit Literaturpreisen überhäuft. Im Washingtoner Holocaust-Museum
lag auf sechs Videokassetten sogar ein „oral history-Interview“
(Archivnummer RG-50.030*0385). Doch dann platzte die Bombe. Die Schweizer
„Weltwoche“ schrieb, dass Wilkomirski in Wahrheit Bruno
Dösekker hieß und nie ein Konzentrationslager von innen gesehen
hatte. Die weltweite Betroffenheit war groß. Des Rätsels
Lösung war so simpel wie beklemmend. Herrn Dösekker war von
Psychotherapeuten im Rahmen mehrerer Sitzungen so lange und nachhaltig
falsche Erinnerungen implantiert worden, bis der unter Depressionen
leidende Patient von seiner erfundenen Vergangenheit absolut überzeugt
war.