Bevor Sie im Text weiter lesen, versuchen Sie zunächst folgendes
Rätsel zu lösen: Dies ist die Geschichte eines Mädchens.
Während der Beerdigung ihrer Mutter sah sie einen Mann, den sie
vorher noch nie gesehen hatte. Sie war von ihm so überwältigt
und sich so sicher, er sei der Mann ihrer Träume, dass sie sich
Hals über Kopf in ihn verliebte. Nach der Beerdigung verschwand
der Angebetete, und sie verlor ihn aus den Augen. Wenige Tage später
tötete das Mädchen ihre eigene Schwester. Warum tat sie das?
Manchmal fragen wir uns, was in den Gehirnen von Menschen vorgeht und
übersehen dabei, dass die Vielfalt des Lebens sich nicht nur auf
Äußerlichkeiten beschränkt, sondern bis in die Großhirnrinde
reicht. Wir bewundern Ausnahmeerscheinungen wie Spitzenwissenschafter
oder Künstler, sind aber von „Monstern“ entsetzt, die
ihre Tochter 24 Jahre in ein Verlies sperren, um mit ihr eine Inzest-Parallelfamilie
zu gründen oder die ihre Familie gleich mit einer Axt erschlagen,
um ihr die vermeintliche Schande von Schulden zu ersparen. Milieutheoretiker
verschwenden in solchen Fällen viel Zeit mit der Frage, was da
in der Erziehung schief gelaufen sein möge. Haben die Eltern oder
hat (wieder einmal) die Schule versagt? Manche Psychologisten glauben
gar zu wissen, dass es sich da um die „österreichische Seele“
handle und ähnlicher Unfug mehr. Seelendeutung und Kaffeesudleserei
waren immer schon Zwillinge.
Bei Psychopathen, bei Schizophrenie und auch beim Autismus kann man
nicht ein-fach die Umwelt verantwortlich machen. Genauso gut könnte
man Eltern die Schuld geben, wenn das Kind bluterkrank ist, was einige
Freizeitwissenschafter leider mitunter machen. Wie unendlich schwer
es ist, sich in ein fremdes Gehirn zu versetzen, zeigt schon die Frage,
wie ein farbenblinder Mensch Farben tatsächlich wahrnimmt. Farben,
die wir „Normalsichtigen“ unterscheiden können, sieht
ein Rot-Grün-Blinder eben nicht. Dafür sieht er Farbunterschiede
dort, wo „Normalsichtige“ keine wahrnehmen. Man versuche
einmal die Frage zu klären, wie ein Farbenblinder die Farbe Rot
sieht. Man wird scheitern. Die Frage ist nicht zu klären, weil
zwischen jedem „Ich“ eine Wand besteht. Die Evolution lebt
aus der Vielfalt. Die Natur hat uns mit ähnlichen Wahrnehmungsmustern
ausgestattet, aber nicht mit identischen.
Die Lösung des obigen Rätsels ist nur für Psychopathen
einfach. Verurteilte (amerikanische) Serienmörder, denen diese
Frage gestellt wurde, gaben ohne Nachdenken die richtige Antwort: Das
Mädchen tötete ihre Schwester, weil sie hoffte, der Mann würde
wieder auf der Beerdigung erscheinen. Sollte einer ihrer Freunde das
Rätsel rasch lösen, dann wäre eine gewisse Vorsicht geboten.