Die räumliche Wahrnehmung unseres Gehirns war schon immer ein großes Thema der Wissenschaften und der Philosophie. Ohne räumliches Vorstellungsvermögen sind wir hilflos. Wer zwischen links und rechts nicht unterscheiden kann, der kann immer noch auf Orientierungsprothesen wie Flugzeugpiloten, Bus- und Taxifahrer oder ein GPS-Gerät mit aktueller Software vertrauen. In der Wildnis sind Tiere und Menschen allerdings auf die alleinige Funktion des Gehirns angewiesen.
Der Nobelpreis für „Medizin oder Physiologie“ ging in diesem Jahr zur Hälfte an John O’Keefe, zur anderen Hälfte an das norwegische Forscher-Ehepaar May-Britt und Edvard Moser aus Norwegen. O’Keefe ist Professor am Institut für kognitive Neurowissenschaften des University College London. Er wurde als Sohn irischer Einwanderer in New York geboren und studierte am City College of New York. Seine Doktorarbeit aus dem Jahre 1967 behandelte die „Amygdala“, eine zentrale Hirnregion, die auch „Mandelkern“ genannt wird. O’Keefe befasst sich später mit den Nervenvorgängen bei der räumlichen Orientierung und des räumlichen Gedächtnisses sowie der Funktion, die der „Hippocampus“ (der evolutionär älteste Teil des Gehirns) bei der Raumwahrnehmung hat. Er entwickelte ein Modell der Gedächtnisfunktion des Hippocampus, das er experimentell an Nagetieren und Menschen überprüfte. 1978 erschien dazu das einflussreiche Fachbuch „The Hippocampus as a cognitive map“.
May-Britt und Edvard Moser sind ein Forscherehepaar wie einst Marie und Pierre Curie. Sie studierten beide in Oslo und sind promovierte Neurophysiologen. Die Mosers befassten sich mit den Bereichen des Rattengehirns, die an der räumlichen Orientierung beteiligt sind, an der Planung eines Weges und an räumlichen Erinnerungen. Nervenzellen, die diese Aufgaben übernehmen, befinden sich im Hippocampus und in Teilen der Hirnrinde, wo das Ehepaar Moser 2005 so genannte „grid cells“ (Koordinaten- oder Rasterzellen) fanden. Das Koordinatennetz, das durch diese Zellen gebildet wird, setzt sich aus gleichseitigen Dreiecken zusammen. Die Entdeckung der grid cells gilt als eine der wichtigsten in den Neurowissenschaften.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass genau hundert Jahre zuvor der österreichisch-ungarische Arzt Robert Bárány den Nobelpreis für die Erforschung des Vestibularapparats bekommen hat. Im „VN-Scheinwerfer“ der letzten Woche wurde darüber berichtet. Bei diesem Organ handelt es sich nicht um einen Teil des Gehirns, sondern um ein Sinnesorgan im Innenohr, das uns über die räumliche Orientierung informiert. Es ist möglich, dass dieses Jubiläum einen Einfluss auf die diesjährige Preisverleihung hatte.