Vor einem Jahr erschien der wissenschaftliche Bestseller „Lernen sichtbar machen“ (original: „Visible Learning“) von Prof. John Hattie. Die Medien berichteten groß über dieses grandiose Werk, das jeder, der sich für einen Bildungsexperten hält, lesen sollte. Die öffentliche Diskussion über diese Metastudie war jedoch unvollständig. In John Hatties Studie wird aufgezeigt, dass Persönlichkeit und Qualität der Lehrer eine enorme Bedeutung beim Erwerb von Bildung haben, die Schulstrukturen jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielen. Im Grunde ist das nichts Neues, aber Hattie belegt diese Erkenntnisse durch die Auswertung von über 800 Meta-Analysen weltweit.
Der größte von Hattie nachgewiesene Effekt wurde nirgendwo erwähnt, womöglich war die Studie nur von wenigen Menschen gelesen worden. Den stärksten Effekt beim Bildungserwerb hat die Selbsterkenntnis. Einfach ausgedrückt: Wer erfolgreich sein will, darf sich selbst nichts vormachen.
Die Tendenz, sich selbst zu überschätzen, wurde 1999 an der Cornell-University von den beiden Professoren David Dunning und Justin Kruger untersucht. Der Dunning-Kruger-Effekt besagt, dass weniger kompetente Personen dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Das ganze Ausmaß der eigenen Inkompetenz kann nicht erkannt und die Kompetenz anderer Menschen nicht beurteilt werden.
In einer Reihe von Experimenten ließen Dunning und Kruger Versuchspersonen verschiedene Aufgaben aus den Bereichen Logik und Grammatik lösen. Danach wurden die Testpersonen gefragt, wie sie ihre eigene Leistung einschätzten. Die meisten von ihnen lagen deutlich daneben. Sogar das schwächste Viertel der Versuchspersonen hielt sich für gut bis sehr gut. Personen aus dem besten Viertel schätzten sich zwar auch als gut ein, in Wirklichkeit waren sie jedoch wesentlich besser als sie selbst vermuteten. Der Effekt ist verständlich. Wer selbst mangelhaft gebildet ist, kann nicht erkennen, ob andere richtig oder falsch liegen. Man sieht nur die eigene (klägliche) Leistung und überschätzt sie.
Der Dunning-Kruger-Effekt ist bei manchen Castingshows auf peinliche Weise zu erkennen. Jemand kauft sich ein Instrument und bemüht sich, ein paar Akkorde zu spielen. Die Begeisterung steigt mit dem Können. Bald jedoch entsteht der schreckliche Fehlschluss, der Schritt zum musikalischen Weltruhm stehe unmittelbar bevor. Laut Dunning und Kruger ist es allerdings möglich, durch die individuell richtige Bildung und durch Übung und Selbstdisziplin nicht nur die eigene Kompetenz zu steigern, sondern auch die Fähigkeiten, andere Zeitgenossen besser einschätzen zu können. Diese Erkenntnis passt nahtlos zu den Aussagen von John Hattie.