Im Advent 1938 herrschte am Kaiser Wilhelm Institut in Berlin gedrückte Stimmung. Die jüdische Physikprofessorin Lise Meitner hatte im Sommer nach Schweden fliehen müssen, nachdem ihr die Nationalsozialisten jede Ausreiseerlaubnis verweigert hatten. Lise Meitner war die erste Physikstudentin Österreichs und die erste Universitätsprofessorin für Physik im deutschsprachigen Raum. Otto Hahn, ihr Kollege und Chef, war Professor für Chemie in Berlin und ein bekannter Fachmann für chemische Analyseverfahren.
In den Dreißigerjahren begannen Physiker und Chemiker verschiedene Elemente mit Neutronen zu bestrahlen. Es bestand dadurch die Möglichkeit, neue und besonders schwere Atomsorten zu gewinnen. Kurz vor Weihnachten bestrahlten Hahn und sein Assistent Straßmann Uran mit Neutronen, aber ein Resultat widersprach allen bisherigen Erkenntnissen so erheblich, dass er Lise Meitner um Rat fragte. Hahn, der auch nach ihrer Flucht laufend mit Meitner in Kontakt stand, schrieb ihr am 19. Dezember 1938 nach Schweden, wo sie die Weihnachtsferien verbrachte. „Es ist nämlich etwas mit unseren Radiumisotopen, was so merkwürdig ist, dass wir es vorerst nur Dir sagen. … alle Reaktionen stimmen. Nur eine nicht … so kommen wir zu dem schrecklichen Schluss: Unsere Radium-Isotope verhalten sich nicht wie Radium, sondern wie Barium. Wäre es möglich, dass das Uran … zerplatzt in ein Barium und ein Masurium [heute Technetium]? Es würde mich natürlich sehr interessieren, Dein Urteil zu hören.“
Früher lernten die Schüler in Chemie, dass ein chemisches Element nicht mehr in andere Substanzen zerlegt werden kann. Hahn war daher überrascht, als er nach der Bestrahlung der schweren Uranatome seine Testlösungen genau analysierte und Barium fand. Uran hat 92 Protonen im Atomkern, Barium nur 56. Noch vor Meitners Antwort publizierten Hahn und Straßmann zwei Tage vor Weihnachten ihre Entdeckung in der Zeitschrift „Die Naturwissenschaften“ mit der Formulierung „Wir können uns zu diesem, allen bisherigen Erfahrungen der Kernphysik widersprechenden Sprung [die Kernspaltung], noch nicht entschließen.“
Einen Tag vor dem Heiligen Abend 1938 traf Meitner ihren Neffen, den österreichischen Atomphysiker Otto Robert Frisch. Bei einem Spaziergang durch die schwedische Winterlandschaft wurde ihnen klar, dass es eine Spaltung einiger Urankerne gegeben hatte und dabei eine große Energiemenge freigesetzt worden war. Diese folgenschwere Entdeckung von Hahn, Meitner und Straßmann vor genau 75 Jahren führte zum Bau der Atombombe in New Mexico. „Jornada del Muerto“ (die Reise des Toten) nannten die Spanier den Ort nahe der Stadt Alamogordo, wo die erste atomare Explosion der Geschichte stattfand.