Darwins geordnete Welt war ins Wanken geraten. Eine seiner Töchter
war an Diphtherie erkrankt. Er selber war ebenfalls bettlägerig,
aber der Arzt seines Vertrauens stand wegen eines öffentlichen
Sexskandals nicht zur Verfügung, und sein geistig behinderter Sohn
Charles Waring gab ebenfalls Anlass zur Sorge. Und nun das! An einem
stillen Junimorgen 1858 traf ein Paket ein, das die halbe Erde umrundet
hatte. Es enthielt ein Essay von 20 Seiten und stammte vom Biologen
und Weltenbummler Alfred Russel Wallace. Der Text enthielt die Kurzbeschreibung
einer neuen Auffassung über die Entstehung der Arten und war von
Darwins Theorie, an der er seit Jahren heimlich gearbeitet hatte, kaum
zu unterscheiden. Tief getroffen schrieb Darwin an seinen Freund, den
Geologen Lyell: „Wenn Wallace meinen handschriftlichen Entwurf
von 1842 besäße, er hätte kein besseres Resümee
anfertigen können.“ Wallace kam nicht aus reichem Haus wie
Darwin, auch seine Schulbildung war bescheiden, aber das Feuer des Forscherdranges
führte ihn um die Welt. Nach Jahren in Fernost war er zu den gleichen
Schlussfolgerungen gekommen, wie sein berühm-tes Vorbild.
Darwin musste nun alles auf eine Karte setzen. Sein altes und umfangreiches
Manuskript „Natural Selection“ wurde gekürzt, durch
neue Erkenntnisse ergänzt und von einigen Freunden, dem Zoologen
Thomas Huxley, dem Botaniker Joseph Hooker und dem Geologen Charles
Lyell teilweise korrigiert. Darwin hasste nichts mehr als Stress, sodass
er mit den Nerven schnell am Ende war, aber unter dem anhaltenden Druck
seiner Freunde und „angetrieben von einem wahnsinnig starken Wunsch,
mein Buch zu beenden“ schloss er sein Werk ab. „Über
die Entstehung der Arten und Varietäten durch natürliche Selektion“
erschien vor 150 Jahren, am 24. November 1859. Die Erstauflage war in
wenigen Tagen ausverkauft.
Darwins historische Leistung bestand darin, der belebten Natur ein
Gesetz gegeben zu haben. Naturgesetze waren dadurch nicht mehr auf die
unbelebte Natur beschränkt. Vor Darwin waren die Biologen Sammler
und Beschreiber von Blumen, Insekten und alten Knochen. Danach hatte
die Biologie ein mächtiges System bekommen.
Die Theorien der natürlichen Selektion wurden später systematisch
erweitert. Um 1890 entstand der Neodarwinismus. Dieser wandelte sich
allmählich zur „synthetischen Theorie“. Heute besteht
das Zentrum der Biologie aus dem großen Lehrgebäude der erweiterten
synthetischen Evolutionstheorie. Darwinkritiker übersehen beharrlich,
dass Darwin eine Wende der Wissenschaft bewirkt hatte, dass der heutige
Wissensstand mit Darwin aber so viel zu tun hat wie die moderne Radioastronomie
mit den Büchern des Nikolaus Kopernikus.