Von mehreren Erklärungen einer Sache ist im Zweifelsfall die einfachste Theorie vorzuziehen. Diese Regel des mittelalterlichen Mönchs Wilhelm von Ockham wird auch „Occam’s Razor“ genannt. Ein Vorfall beim Europäischen Kernforschungszentrum CERN soll diesmal zeigen, dass Ockhams Rasiermesser gleichermaßen einfach wie richtig ist.
Im Teilchenbeschleuniger LHC in Genf werden Protonen (Atomkerne des Wasserstoffs) in evakuierten Röhren, die nicht dicker sind als ein PKW-Auspuff, mit Hilfe von Radiofrequenzbeschleunigern in Schwung gebracht. Protonen surfen auf einer Strahlungswelle durch die Röhre, wobei die Teilchengruppen, die auf einem Wellenberg reiten, ca. 30 Zentimeter lang und dünn wie ein Haar sind. Im LHC bewegen sich diese Teilchenpakete mit einem Mindestabstand von ca. 8 Metern. Da die Protonen im Kreis fliegen, werden Elektromagnete für die Kurvenbeschleunigung benötigt. Der LHC hat 1.232 supraleitende Führungsmagnete, jeder von ihnen ist 14 Meter lang und wiegt 35 Tonnen. Zusätzlich gibt es noch 858 Fokussierungsmagnete. Sie machen die Teilchenfäden extrem dünn. Damit steigt die Trefferquote, wenn die Protonen in einem Detektor kollidieren. Zusätzlich gibt es noch 7.200 kleinere Korrekturmagnete, damit enthält der LHC insgesamt 9.300 Elektromagnete. Die Spulen in der Mitte der Magnete müssen mit flüssigem Helium auf minus 271° Celsius abgekühlt werden. Das ist etwas kälter als das Weltall.
Die Protonen werden im LHC auf 99,999 9991 % der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Licht ist nur um 10 km/h schneller. Jeder einzelne der „Protonenfäden“ hat die Energie eines fahrenden Schnellzugs. Auch Nicht-Techniker ahnen, dass dafür Unmengen an Energie nötig sind. Jeder einzelne Führungsmagnet benötigt eine Stromstärke von 11.800 Ampere, das entspricht über hundert Haushalten im elektrischen Vollbetrieb.
Am 12. September 2008 fiel kurz nach Mitternacht ein Transformator aus. Trotzdem wurden weitere Tests durchgeführt. Nachdem die Stromstärke 8.700 Ampere erreicht hatte, kam es zu einer Explosion. Flüssiges Helium trat aus und erzeugte eine gewaltige Druckwelle, die vier Dutzend tonnenschwere Magnete demolierte. Prompt meldeten sich Verschwörologen öffentlich zu Wort. Ein Vogel habe sich in den Beschleunigertunnel verirrt und ein Körnchen in einen Transformator fallen lassen. Zwei esoterisch angehauchte Physiker behaupteten, der LHC habe die Raumzeit so verändert, dass er sich automatisch selbst zerstöre, bevor das berühmte Higgs-Teilchen gefunden werden kann. Die Wahrheit stellte sich entsprechend Occam’s Razor wie erwartet als simpel heraus. Eine schadhafte Lötstelle in einem Kabel war heiß geworden und hatte ein Loch in einen Magneten gebrannt.