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Keine Reue und tiefe Verachtung


Die erstaunte Frage „warum hast du dir diesen Abstieg angetan?“ habe ich schon oft hören müssen. Ich war, bevor ich 1979 mit meiner Unterrichtstätigkeit am Privatgymnasium Riedenburg in Bregenz begann, an einem Genetiklehrstuhl der Universität Tübingen beschäftigt. Dort habe ich meine Dissertation geschrieben. Die Universität Tübingen hatte ich nach meiner Lehramtsprüfung in Salzburg bewusst gewählt, da die aufstrebende Wissenschaft der Genetik und Gentechnik in Tübingen stark vertreten war und dieser Wissensbereich mich grenzenlos begeisterte. In Österreich wusste damals niemand, was das ist. Ich hatte daher einige Mühe, meinen Freunden und Verwandten zu erklären, was ich in Tübingen eigentlich mache. Das Killergen eines Lambdaphagen mittels UV-Bestrahlung aktivieren? Was ist das? Für mich war es eine großartige Zeit. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft hautnah miterleben zu können, gehört zum Faszinierendsten, was ein junger Mensch erleben kann. Wir haben damals Chromosomen neu zusammengebaut und eine so genannte Artbarriere errichtet. Im Klartext: Wir haben im Labor neue Insektenarten fabriziert und uns dabei nichts gedacht. Es war einfach nur cool. Wir haben nicht „Gott gespielt“, wie den Genetikern bisweilen vorgeworfen wurde und wird, sondern wir haben vor über drei Jahrzehnten lediglich etwas gemacht, was viele Menschen heute noch für unmöglich halten. Die Wissenschaft ist dem öffentlichen Bewusstsein nicht um Jahre, sondern um Jahrzehnte voraus. 

Eines Tages ergab sich für meine Frau und mich die Möglichkeit, ein „Probejahr“ als Lehrer zu absolvieren. Wir gingen nach Bregenz und begannen am Privatgymnasium Riedenburg zu unterrichten. Mein damaliger Chef in Tübingen versicherte mir, einen Assistentenposten frei zu halten. Karriere nicht ausgeschlossen.

Bundesgymnasium Bregenz BlumenstraßeIn Bregenz stellte ich mit Staunen fest, dass das Unterrichten eine anstrengende Sache ist. Weniger begabte Schüler sind durch ihre schiere Existenz eine gewisse Kampfansage, begabte Schüler noch mehr, weil sie regelmäßig bohrende Fragen stellen. Auch phlegmatische Schüler sind eine Herausforderung, wenn man bei ihnen versucht, zumindest halbwegs Interesse für das Fach zu erwecken. Schnell wurde mir klar, dass der Lehrer mehr machen kann als Wissen zu vermitteln. Der Lehrer ist ein Weltbildvermittler, er kann jungen Menschen beibringen, wie man Wissen einordnet, wie man kritisch denken lernt und wie man Begeisterung entwickeln kann. Nachdem ich das verstanden hatte, bin ich dieser Idee bis zu meinem letzten Schultag treu geblieben. Ich habe mich auch nie gescheut, den Schülern öffentlich agierende Ideologen, Schwafler und Blender regelmäßig als solche vorzuführen. Gerade in meinen naturwissenschaftlichen Fächern war das leichter zu bewerkstelligen als in allen anderen Fächern.

Nachdem ich im Jahr 2000 vom Privatgymnasium Riedenburg in das Gymnasium Blumenstraße gewechselt und hier herzlich aufgenommen worden war, erschien die erste PISA-Studie, die von den Medien ignoriert wurde. Die damalige (erste) PISA-Studie reihte Österreich in allen Kategorien jeweils im ersten Drittel aller Teilnehmerländer ein. PISA 2000 erbrachte für Österreich so hervorragende Werte, dass diese von den Medien nicht berichtet wurden. „Good news“, vor allem im politisch-pädagogischen Bereich, sind für Medien unbrauchbar. Drei Jahre später kam es zu einem „Absturz“ der Ergebnisse. Man muss weder ein Statistik- noch ein sonstiger Experte sein um zu erkennen, dass hier Mess- oder Rechenfehler vorliegen müssen, denn innerhalb von drei Jahren änderten sich weder Lehrer noch Schüler noch Lehrpläne so gravierend, dass es zu einem Leistungsabsturz kommen konnte. Die eklatanten Schwächen der PISA-Studie blieben unseren selbsternannten „Bildungsexperten“, die plötzlich als rot-grüne Aliens in der Öffentlichkeit erschienen waren, verborgen, sind aber echten Fachleuten aus der Wissenschaft längst bewusst. Ein Aspekt wird sogar die Lehrer überraschen. Selbst wenn alle österreichischen Schüler einen riesigen Sprung nach vorne machten, würden die Bildungs-Risikogruppen nicht kleiner, weil die Daten nachträglich so „normalisiert“ werden, dass ein bestimmter Teil immer die Risikogruppe bildet. Andernfalls würde PISA seinen politischen Zweck nicht erfüllen, nämlich verfälschte Argumentationshilfen für „Bildungsexperten“ zu liefern.

Nachdem vor ungefähr zehn Jahren urplötzlich eine schauderhaft anmutende Herde von „Bildungsexperten“ die öffentlichen Bühnen betreten hatte, folgte eine quälende Kakophonie ungebetener Wortspenden, die bis heute andauert. Kaum eine TV-Talkshow, kaum ein Wochenmagazin oder eine Tageszeitung, in der uns nicht Selbstdarsteller, die nach ihrer Schulzeit nie eine Klasse von innen gesehen haben, die Schulwelt erklären. Öffentliches Narrentum ersetzt Wissen und Ausbildung. So diffamierte kürzlich „Bildungsexperte“ Andreas Salcher in einem Interview der Vorarlberger Nachrichten die Lehrer pauschal, als er meinte, dass die österreichischen Lehrer „Osterhasenpädagogik“ betrieben. Sie versteckten ihr Wissen vor den Schülern und diese müssten es mühsam suchen. Niemand wusste, was er mit diesem Unsinn gemeint hat, Salcher mit Sicherheit selbst nicht.

Erstaunlicherweise werden Lehrer so gut wie nie zur Bildungspolitik befragt, und wenn, dann haben sie es mit tendenziös argumentierenden „Experten“ zu tun, wie meine Kollegin Mag. Verena Nägele am 12. Mai dieses Jahres in der ORF-Sendung „Im Zentrum“. Sie war die einzige fachkundige Diskussionsteilnehmerin, was daran zu erkennen war, dass die anwesenden „Experten“ sofort das Thema wechselten, wenn die Kollegin die Kompetenzkarte ausspielte. Als der Moderator Kollegin Nägele als Vertreterin der Lehrergewerkschaft fragte, wie sie zu den vielen schulautonomen Tagen stehe, und sie sagte, dass die Lehrergewerkschaft diese längst abschaffen wollte, die Schüler und Eltern aber dagegen waren, war das Thema augenblicklich erledigt. Objektivität ist bei ideologisch unterlegten Diskussionen bekanntlich eine kreative Kategorie, besonders im ORF. 

Auch zu den PISA-Resultaten haben Lehrer etwas zu sagen. So bekannte eine Lehrerin aus Korea, dass in ihrem Land nur die besten Schüler aus den besten (Privat)schulen an den PISA-Testungen teilnehmen. In Österreich werden die Schüler gänzlich anders ausgewählt, was bedeutet, dass internationale Vergleiche von PISA-Zahlen nichtssagend sind. Trotzdem veranstalten (uninformierte) Journalisten jedes Mal einen Mords-Zinnober, wenn wieder berichtet werden darf, wie wenig unser viel zu teures Bildungssystem leistet. Erstens leistet das österreichische Bildungssystem die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit der Welt, zweitens fließt ein großer Teil des Bildungsbudgets nicht in die Schulen, sondern in eine aufgeblähte unproduktive Verwaltung. Insider wissen, dass das österreichische Unterrichtsministerium eine Geldvernichtungsmaschine ist.

Erst vor einem Jahr schockte DDr. Manfred Spitzer die Öffentlichkeit mit seinem Buch „Digitale Demenz“, als er – wissenschaftlich fundiert – berichtete, dass der exzessive Gebrauch des Internets die Schüler systematisch verblödet, wobei Mädchen wegen ihrer sozial motivierten stärkeren Nutzung sozialer Netzwerke mehr gefährdet sind als gleichaltrige Burschen. Für uns Informatiklehrer ist das nichts Neues, wir wissen das seit Jahren.

Wir Lehrer sind schon deswegen die wahren Bildungsexperten, weil nur wir über zeitliche Längsschnittvergleiche verfügen. Ein Lehrer, der mindestens zwanzig Jahre unterrichtet hat, weiß wie kein anderer, wie die Jugendlichen ticken, wie sie gestern und vorgestern getickt haben. Keine Vergleichsstudie kann dieses Erfahrungswissen ersetzen. Innerhalb der Lehrerschaft werden diese Themen sehr wohl diskutiert, aber Redaktionen unserer Medien hören lieber auf Blenderlegenden. So etwas lässt sich in einer oberflächlichen Mediengesellschaft besser verkaufen.

Wie radikal schlampig unsere Gesellschaft diskutiert, erkennt man an einfachen Details. So wird seit Jahren über die Einführung der Gesamtschule – auch „gemeinsame Schule der 6- bis 14-Jährigen“ genannt – diskutiert, aber niemand hat es der Mühe wert gefunden zu fragen oder zu erklären, wie diese aussehen soll. Eher Hauptschullehrpläne? Eher Gymnasiumslehrpläne? Eher etwas dazwischen? Zwei Leistungsgruppen? Vier Leistungsgruppen? Zweite Fremdsprache? All das wären entscheidende Fragen, aber damit setzen sich „Bildungsexperten“ mangels an Kompetenz nicht auseinander. Stattdessen werden der Öffentlichkeit simple Stellungnahmen und Phrasen wie „Integration“, „Inclusion“, Bildungsgerechtigkeit“ als intellektuelles Fastfood zum Fraß vorgeworfen.

Eine entscheidende Frage hat kürzlich der Neuseeländische Professor John Hattie in seiner Metastudie „Visible Learning“ beantwortet. Welcher Faktor unter Tausenden ist derjenige, der am ehesten zu einem Bildungserfolg führt? Es sind weder Internet, noch Overheadprojektoren, schon gar nicht „blended learning“ (ein komischer neudeutscher Begriff, der kurz nach seiner Bejubelung schon wieder verendet ist), nicht „eigenverantwortliches Lernen“, auch nicht irgendein anderer Begriff aus der eher flachen Welt der Reformpädagogik. Der stärkste messbare pädagogische Wirkungsfaktor ist die Person des Lehrers.

Diese Erkenntnis provoziert am Ende meiner Lehrerlaufbahn unabwendbar die Frage aller Fragen: Rudolf, würdest du, wenn du mit deiner Erfahrung noch einmal zur Welt kämst, wieder Lehrer werden wollen?

Ja, ich würde es wieder machen, denn ich habe den Wechsel von der Wissenschaft in die Schule nie als Abstieg empfunden. Der Lehrerberuf hat einen unschätzbaren Vorteil. Es ist ein grandioser Beruf, wenn man ihn als Berufung auffasst. Der Lehrerberuf ist trotz aller Belastungen, die in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben, der wahrscheinlich wertvollste Beruf im Universum. Man ist von jungen Menschen umgeben, die man über Jahre hinweg vom Kind bis zum Erwachsenen begleiten darf. Gibt es etwas Schöneres? Bei all dieser Erkenntnis darf jedoch nicht übersehen werden, dass es sehr wohl soziale Probleme gibt. Es gibt Jugendliche, die allein gelassen sind, in der Familie keine Motivation erfahren und daher eine Betreuung brauchen. Niemand weiß das besser als Klassenvorstände und andere Lehrer, an denen vernachlässigte Schüler in den Pausen hängen wie Kletten. Ganztagsbetreuung als Angebot ist daher eine wichtige Option, aber das löst keine Probleme. Dreh- und Angelpunkt aller Chancen eines jungen Menschen sind weder Schulstrukturen noch technische Fragen. Wer das glaubt, ist ein Träumer. Dreh- und Angelpunkt aller Chancen sind natürliche Begabung, Familie und Lehrer. Punkt.  

Nochmals Lehrer werden? Ja! Ich würde es wieder machen, ich würde es mir aber dreimal überlegen, nochmals in Österreich Lehrer werden zu wollen. Meine Frau und ich bekamen zu Beginn unserer Lehrertätigkeit die Chance, an einem privaten College in Toronto die Lehrerlaufbahn zu beschreiten. Damals habe ich mich für Österreich entschieden, heute würde ich Canada den Vorzug geben. Dies nicht wegen des Verdienstes, sondern ausschließlich wegen der erkennbar höheren gesellschaftlichen Wertschätzung.  

Ich bereue es keine Sekunde, Lehrer geworden zu sein, und ich erinnere meine Kollegen gelegentlich daran, darauf stolz zu sein, einen großen Beruf ausüben zu dürfen. Meine tiefe Verachtung gehört den Leuten, die unter dem Deckmantel der Diskussion und der Meinungsfreiheit auf dem Lehrerberuf herumtrampeln, weil in einer gehirnweichgespülten und  smartphonisierten Boulevardmediengesellschaft Oberflächlichkeit und dümmliches Blendertum mehr zählen als echte Bildungsbegeisterung. Sollte es den „Bildungsexperten“ gelingen, mit Hilfe abseitiger Schulstrukturdebatten und einem fortlaufenden Lehrerbashing – um es neudeutsch auszudrücken – Scheinreformen herbeizuschwafeln, wird sich der bereits begonnene Lehrermangel weiter beschleunigen. Wer will schon einen Beruf ergreifen, in dem man es inkompetenten „Bildungsexperten“ nie recht machen kann.

Die nächste Generation wird am Ende einen hohen Preis dafür zahlen, dass erfahrene und verantwortungsbewusste Lehrer heute nicht ernst genommen werden und wir uns von dilettantisch-zynischen Medien laufend vorführen lassen.

Mag. Dr. Rudolf Öller
5. Juli 2013

 

Der Aufsatz ist im Jahresbericht 2012/13
des Bundesgymnasiums Bregenz Blumenstrasse erschienen.




Ehrengäste

© 2013 Rudolf Öller, Bregenz



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Rudolf Oeller:

Typhon District

Thriller über eine Gruppe von Wissenschaftlern, die Gott gründlich ins Handwerk pfuscht und dabei zugrunde geht.
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Alles beginnt mit einer harmlosen Untersuchung: Als Ben, ein Molekularbiologe, um Hilfe gebeten wird, weil die Schimpansenweibchen im Zoo keinen Nachwuchs bekommen, ahnt er noch nicht, dass seine Welt bald aus den Fugen geraten wird. Die Ursache der Zeugungsunfähigkeit ist nämlich eine Chromosomenmutation der Affendamen, und die bringt seinen Chef auf eine folgenreiche Idee. So entsteht das unter Verschluss gehaltene Projekt Typhon District, benannt nach einem Hybridmonster aus der Mythologie. Erst allmählich kommen bei Ben und seinem internationalen Team Zweifel auf. Doch da sind sie bereits tief in einem Strudel von Geld und Machtgier, Manipulation und Skrupellosigkeit gefangen. Nicht nur ihre eigenen Leben sind bedroht. Als sie das bemerken, ist es bereits zu spät.

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